Wenn der Putz bröckelt, zeigt sich, was trägt.
- Romaine Zenklusen
- 15. Apr.
- 2 Min. Lesezeit
Neulich fiel im Flur ein Stück Putz von der Wand. Einfach so. Kein Erdbeben, kein Wasserschaden – nur die Schwerkraft und ein paar Jahre Wahrheit. Erst ein Lacher, dann ein Blickwechsel: „Und jetzt?“
Manchmal wirkt es, als würde das Haus, in dem wir leben, langsam bröckeln. Nicht das mit den eigenen vier Wänden – sondern das grosse. Das mit Wirtschaft, Politik, Gesellschaft, Systemen, Sicherheit.
Es kracht in den Wänden. Risse werden sichtbar, die schon lange da waren. Und während draussen wild über Sanierungspläne gestritten wird, merkt drinnen mancher: Die tragenden Wände waren längst morsch.
In solchen Momenten passiert oft dasselbe: Der Reflex, hektisch nach Spachtelmasse zu greifen.
Den Riss überstreichen. Funktionieren, obwohl nichts mehr stimmig ist. Hauptsache: weiter.
Vielleicht noch ein neues Konzept. Noch eine Strategie. Noch ein Milliarden-Plan.
Als liesse sich Stabilität herstellen, indem man die Fassade streicht.
Aber: Wenn der Putz fällt, ist das keine Katastrophe. Es ist eine Einladung, genauer hinzuschauen. Was ist echt – und was war nur Tapete?
„Das Neue ist schon da. Das Alte macht nur viel Lärm beim Sterben.“ Eckhart Tolle hat es treffender formuliert als jedes Strategiepapier. Und dieser Lärm – der wird nicht leiser. Im Gegenteil.
Was also tun, wenn draussen alles wackelt? Vielleicht ist genau jetzt die Zeit, den Pinsel sinken zu lassen. Nicht, um aufzugeben. Sondern um zu erkennen: Echte Stabilität kommt nicht von aussen.
Nicht durch Systeme, nicht durch Scheinlösungen, nicht durch Lärm.
Sondern durch innere Statik. Durch Verbindung. Durch das Vertrauen, dass auch ein Haus mit sichtbaren Rissen standhalten kann – wenn die Substanz stimmt.
Das gilt auch für Organisationen. Nicht jedes wackelnde Team braucht sofort ein neues Tool, sondern oft nur eine ehrliche Bestandsaufnahme. Was trägt wirklich? Was war nur Gewohnheit, nur Kulisse, nur Illusion von Kontrolle?
Manchmal beginnt die Zukunft mit einem leisen Knacken in der Wand. Und der Entscheidung, nicht gleich loszurennen. Sondern hinzuhören, was da gerade gehen will. Und was bleiben darf.
In einer Welt, die täglich neue Schlagzeilen produziert, wird Klarheit zur stillen Superpower. Nicht alles kommentieren. Nicht alles kontrollieren. Aber wissen, wo die eigenen tragenden Wände stehen.
Übrigens: Nur weil die Fassade bröckelt, heisst das nicht, dass gleich das ganze Haus einstürzt.
Vielleicht wird es sogar erst dann wieder bewohnbar – weil endlich Luft zum Atmen da ist.
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